Zum Hauptinhalt springen

Das Landesfürsorgeheim Glückstadt

Zwischen 1949 und 1974 befand sich in der Straße Am Jungfernstieg 1 das Landesfürsorgeheim Glückstadt, eine Einrichtung zur Rehabilitation und Umerziehung von straffällig gewordenen und „verwahrlosten“ Jugendlichen.

Das 1979/80 abgerissene Gebäude wurde im 18. Jahrhundert als Marinedepot erbaut. 1874 entstand hier eine Korrigendenanstalt für Obdachlose und Prostituierte, 1925 das Landesarbeitshaus. 1933 richteten die Nationalsozialisten ein Konzentrationslager für politische Häftlinge ein, das schon 1934 wieder aufgelöst wurde. Von 1939 bis 1943 diente das Gebäude als Zwangsarbeiterlager, ab 1943 als Arbeitserziehungslager für „Fürsorgezöglinge“ und zwischen 1945 und 1949 als Lazarett. 1949 erfolgte die Einrichtung des Landesfürsorgeheims für zwölf- bis 21-jährige Jugendliche – bis 1974 war die Volljährigkeit erst mit 21 Jahren erreicht. Als Erzieher wurden ehemalige SA-Männer, die schon im KZ und im Arbeitserziehungslager tätig gewesen waren, eingestellt. Erst ab den späten 1960er Jahren waren auch Pädagogen in Glückstadt beschäftigt. Die Anstaltskleidung der zeitweise bis zu 160 Insassen, Büroartikel wie Karteikarten und Einrichtungsgegenstände wie Bettbezüge und Decken stammten zum Teil noch aus der NS-Zeit.

Die Gründe, aus denen Jugendliche eingewiesen werden konnten, bestanden nicht nur in Kleinkriminalität wie beispielsweise Eigentumsdelikten oder Schlägereien. Mitunter reichten überforderte Eltern oder der unspezifische Befund „Verwahrlosung“ aus, um in die Mühlen des Fürsorgesystems zu geraten. Ein Betroffener kam 1970 mit 19 Jahren nach Glückstadt, weil seine Eltern seinen Lebensstil nicht guthießen: „Die kamen angeblich mit meinem Lebenswandel nicht mehr klar. Dass ich mir ‘ne Gitarre gekauft hab, dass ich in ‘ner Band gespielt hab, dass ich versucht hab, mir etwas länger die Haare wachsen zu lassen. Mein Vater – das konnte der überhaupt nicht verstehen, da hat er überhaupt kein Verständnis für gehabt.“

Die Jugendlichen mussten montags bis samstags in der hauseigenen Fischernetz-Produktion oder in der Schlosserei arbeiten und wurden dafür gar nicht oder nur sehr gering entlohnt. Landwirtschaft, lokale Firmen und die Stadt profitierten von den billigen Arbeitskräften, zum Beispiel bei der Pflege von Parkanlagen, Friedhöfen und Sportplätzen. 

Der Tagesablauf war vor allem von den Arbeitseinsätzen bestimmt. Zwar sollten Möglichkeiten für Sport und „gelenkte Freizeitgestaltung“ zur Verfügung gestellt werden, ehemalige Insassen berichten jedoch, dass nichts dergleichen stattfand und dass außer einem Ball, einer Tischtennisplatte und einem Boxring nichts vorhanden war, um sich die Zeit zu vertreiben. Verpflegung, Hygiene und medizinische Versorgung waren unzureichend. Ein ehemaliger Bewohner erinnert sich: „Das Duschen wurde uns einmal in der Woche erlaubt und nur dann bekamen wir frische Unterwäsche. Neben den hygienischen Bedingungen war auch die medizinische Versorgung mangelhaft. Ich wusste von einem ‚Neuzugang‘ in Gruppe 1, der über starke Bauchschmerzen klagte. Ich und die anderen Jungen hörten ihn zwei Tage und Nächte schreien vor Schmerz, bis er schließlich wegen eines Blinddarmdurchbruchs ins Krankenhaus eingeliefert wurde.“

Zudem schildern Betroffene, dass sie Misshandlungen, Willkür, Demütigungen und sexuellem Missbrauch ausgesetzt waren. Bei der kleinsten Widersetzlichkeit oder Zuwiderhandlung gegen die Heimordnung wurden unverhältnismäßige Strafen wie wochenlange Isolationshaft verhängt. Zwischen 1956 und 1973 nahmen sich drei Jugendliche in der Isolierstation des Landesfürsorgeheims das Leben.
Am 7./8. Mai 1969 lehnten sich die Bewohner gegen die Schikanen auf: Aus Protest gegen die Lebensbedingungen setzten sie Matratzen und Bettlaken in Brand. Der Aufstand wurde gewaltsam niedergeschlagen.

Bereits seit 1949 stand regelmäßig die Schließung des Heims zur Debatte. Allerdings dauerte es bis zum 31. Dezember 1974, bis das Landesfürsorgeheim als letzte bundesrepublikanische Einrichtung dieser Art seine Tore schloss. Lange Zeit war der ehemalige RAF-Terrorist Peter Jürgen Boock, der 1968/69 als Jugendlicher in Glückstadt war, der Einzige, der sich über die Lebensumstände dort äußerte. Erst Mitte der 2000er Jahre, nach der Aufarbeitung von über 8.000 Akten aus der Heimverwaltung im Jahr 2008 und dem Bekanntwerden ähnlicher Zustände in anderen bundesrepublikanischen Fürsorgeheimen, meldeten sich immer mehr der mindestens 7.000 Glückstädter Betroffenen zu Wort und setzten sich für Entschädigungen ein. Nun wurde auch deutlich, wie sehr die Zeit im Landesfürsorgeheim Glückstadt ihre Biografien geprägt hatte: Traumata durch die erlittene Gewalt, fehlende therapeutische Begleitung sowie das soziale Stigma des „Heimkindes“ führten dazu, dass für viele von ihnen die Rückkehr in ein normales Leben nur unter großen Schwierigkeiten möglich war.

2011 wurde Am Jungfernstieg 1 eine Gedenktafel angebracht, die sowohl an das Konzentrationslager als auch an die Gewalt im Landesfürsorgeheim erinnert.

Text: V.V.

verwendete Literatur

Christian Schrapper, Irene Johns (Hg.), Landesfürsorgeheim Glückstadt 1949-74. Bewohner, Geschichte, Konzeption, Neumünster 2010.

Matthias Günther, „Man wollte uns brechen“, Deutschlandfunk Kultur (11.02.2008), URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/man-wollte-uns-brechen-106.html (24.11.2022). 

Heike Haarhoff, Justizskandal im Jugendheim: Das Leiden von Glückstadt, in: taz (18.01.2008), URL: https://taz.de/Justizskandal-im-Jugendheim/!5188265/   (24.11.2022).

Dieter Hanisch: Brutale Fürsorge, in: Die Zeit 45 (01.11.2007), URL: https://www.zeit.de/2007/45/LS-Jugendheim (24.11.2022).