Opfer des Nationalsozialismus: "Euthanasie" und Zwangssterilisierungen
Am 1. Januar 1934 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft. Demnach waren alle Personen, die an „angeborenem Schwachsinn“, Schizophrenie, „zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein“, „erblicher Fallsucht“ (Epilepsie), „erblichem Veitstanz“ (Chorea Huntington), Blindheit, Taubheit, „schwerer erblicher körperlicher Mißbildung“ und Alkoholismus litten, zwangsweise zu sterilisieren. Ärzte und Pflegepersonal meldeten diese Krankheiten bei den Gesundheitsämtern, die dann die Anzeigen an sogenannte „Erbgesundheitsgerichte“ weiterleiteten. In den Jahren von 1934 bis 1945 gingen beim Itzehoer Gesundheitsamt insgesamt über 1.560 Anzeigen ein. In 756 Fällen entschieden die „Erbgesundheitsgerichte“ in Altona, Itzehoe, Kiel, Hamburg, Flensburg und Lübeck, dass eine Zwangssterilisation vorzunehmen sei.
Zu den Einrichtungen, die die Erkrankungen meldeten, gehörten das Landesheim Heiligenstedten, das im dortigen Schloss untergebracht war, die Landesarbeitsanstalt in Glückstadt (Jungfernstieg 1, 1979/80 abgerissen) sowie die Itzehoer Hilfsschule in der Großen Paaschburg 28. Die Eingriffe wurden im Julienstift (Stiftstraße 5), im Glückstädter Krankenhaus, im Mencke-Stift in Wilster (Klosterhof 28, Gebäude 2008 abgebrochen) sowie in der Frauenklinik des Itzehoer Krichauff-Stifts (Talstraße 16) durchgeführt.
Im Landesheim Heiligenstedten lebten rund 200 geistig behinderte Kinder und Erwachsene. Männer waren in der heimeigenen Gärtnerei, in Werkstätten und in der Landwirtschaft beschäftigt, Frauen arbeiteten in der Küche und in der Näherei. Zwischen 1935 und 1939 wurden von der Leitung des Heiligenstedtener Landesheims 165 Sterilisationsanfragen gestellt, die bei 85 Insassen zur zwangsweisen Unfruchtbarmachung wegen „angeborenem Schwachsinn“ und Epilepsie führten. 1939 wurde das Landesheim aufgelöst, das Gebäude zum Lazarett umfunktioniert. Die Bewohner*innen wurden in die Ricklinger Anstalten bei Neumünster, in die Kinder- und Jugendpsychiatrie Schleswig-Hesterberg und in die Landesheil- und Pflegeanstalt Schleswig verlegt. Zwischen Mai und August 1941 wurden im Zuge der Verkleinerung der Schleswiger Einrichtungen über 400 Patientinnen und Patienten in die Tötungsanstalten Bernburg und Uchtspringe in Sachsen-Anhalt deportiert und dort ermordet. Darunter waren mindestens 27 Personen aus dem Kreis Steinburg, von denen ein großer Teil aus dem Heiligenstedtener Landesheim kam.
Das NS-Regime nannte diese Patientenmorde „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ oder verschleiernd „Aktion Gnadentod“ bzw. „Euthanasie“ (von griechisch euthanasía – guter, leichter Tod). Nach 1945 wurde die systematische Ermordung von schätzungsweise 70.000 Kranken und Behinderten zwischen 1939 und 1941 als „Aktion T4“ bezeichnet, da die Leitung der „Zentraldienststelle T4“ – eine Abkürzung für den Standort der Dienststelle, die Tiergartenstraße 4 in Berlin – oblag. Im August 1941 protestierte der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen in einer Predigt gegen die Morde und stieß in der Bevölkerung auf Zustimmung. Die Aktion T4 wurde offiziell eingestellt, aber in den besetzten Gebieten und in Konzentrationslagern fortgeführt. Deshalb ist davon auszugehen, dass die Opferzahlen um einiges höher lagen – Schätzungen gehen von 200.000 bis 300.000 Opfern aus.
Auch in Schleswig-Holstein gingen die Deportationen weiter. Im September 1944 verließ ein Transport mit 700 Patientinnen und Patienten der Schleswiger Einrichtungen die Stadt in Richtung der im heutigen Polen gelegenen Landeskrankenanstalt Meseritz-Obrawalde. Über 50 Steinburger*innen waren unter den Deportierten. Da nur rund 10% der Schleswiger Patienten in Meseritz überlebten, ist davon ausgehen, dass auch sie Opfer des Wahns, ein „erbgesundes“ Volk heranzuzüchten, wurden.
Text: V.V.
verwendete Literatur
Björn Marnau, Die Beisetzung hat in aller Stille stattgefunden. Die Steinburger "Euthanasie"-Toten: vergessene Mordopfer, in: Steinburger Jahrbuch 2005, Itzehoe 2004, S. 34-52.