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Exkurs: Das Reichskommissariat Ostland

Das Reichskommissariat Ostland entstand im Juli 1941 im Zuge des Krieges gegen die Sowjetunion. Es erstreckte sich über Estland, Lettland und Litauen sowie Teile Weißrusslands. Die Kolonie gliederte sich in vier Generalbezirke, denen ein Generalkommissar vorstand und die ihrerseits in 29 Kreisgebiete unter Leitung eines Gebietskommissars unterteilt waren. Im Generalkommissariat Ostland lebten 1941 rund neun Millionen Menschen, darunter ca. 500.000 Juden. Hauptstadt und Sitz des Reichskommissars Hinrich Lohse war Riga. In der zivilen Verwaltung waren ca. 5.000 deutsche Mitarbeiter beschäftigt. Darunter waren viele Schleswig-Holsteiner und auch Steinburger wie der spätere Landrat Peter Matthiessen. Die Aufgaben der Verwaltungskräfte bestanden in der Beschaffung von materiellen Ressourcen und Zwangsarbeitenden für die Kriegswirtschaft des NS-Staates. Überwachende und polizeiliche Maßnahmen gegenüber der Zivilbevölkerung gehörten ebenso zum Aufgabenbereich wie die Koordination der Enteignung, Ghettoisierung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung und der rund 50.000 aus dem Deutschen Reich ins Baltikum deportierten „Reichsjuden“.

Die deutsche Besatzung stand von Anfang an im Zeichen nationalsozialistischen Rassenwahns und lässt sich in drei zeitliche Abschnitte unterteilen. In der ersten Phase bis Dezember 1941 unterstand das Reichskommissariat Ostland militärischer Verwaltung. In dieser Zeit ermordeten Angehörige der sogenannten Einsatzgruppen, die sich aus Mitgliedern der SS, des Sicherheitsdienstes (SD) und der Ordnungspolizei zusammensetzten, mit Unterstützung einheimischer Kollaborateure in Litauen rund 140.000, in Lettland ca. 32.000 Menschen. Die Massenerschießungen stießen jedoch bei den Gebietskommissaren und bei Reichskommissar Hinrich Lohse auf Unmut – nicht aufgrund der Tatsache, dass ein Massenmord stattfand, sondern wegen der „ungeordneten“ Art der Durchführung. Lohse untersagte daraufhin die „wilden Judenexekutionen“.

Dies markiert den Beginn der zweiten Phase. Das Morden ging weiter, lief nun aber in „geordneten Bahnen“ ab und war arbeitsteilig organisiert. Die jüdische Bevölkerung wurde bürokratisch erfasst, gekennzeichnet, enteignet und in Ghettos interniert. Wer noch arbeitsfähig war, wurde zur Zwangsarbeit eingeteilt. Die Durchführung dieser Maßnahmen oblag den Zivilverwaltungen, die die Militärverwaltungen abgelöst hatten. Sie waren außerdem für die aus dem Deutschen Reich ins Reichskommissariat deportierten Juden zuständig, die hauptsächlich im Winter 1941/42 und im Spätsommer 1942 eintrafen. Für die Verschleppten musste Platz geschaffen werden, also wurden die baltischen Ghettos „geräumt“ – dies bedeutet nichts anderes, als dass die bisherigen Insassen erschossen wurden, um die Hinzugekommenen dort einzupferchen. Allein bei der „Räumung“ des Rigaer Ghettos vom 29. November bis 8. Dezember 1941 kamen mehr als 27.800 Menschen ums Leben.

Ab 1942 konzentrierte sich die Zivilverwaltung vorrangig auf das Aufrechterhalten der Kriegswirtschaft. Die in den Ghettos verbliebenen Überlebenden wurden zur Zwangsarbeit, vor allem für Wehrmacht und Reichsbahn, herangezogen. Ab Juni 1943 wurden die Ghettos aufgelöst und die Bewohner in Konzentrationslager gebracht, wo sie Zwangsarbeit im Ölschieferabbau, in der Forstwirtschaft, in Steinbrüchen und im Straßenbau leisteten.

Während des Vorstoßes der sowjetischen Armee ins Baltikum 1944 versuchten die deutschen Besatzer, Hinweise auf ihre Verbrechen zu vertuschen. KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene mussten Massengräber öffnen und die Toten verbrennen. Lagerinsassen wurden ermordet oder auf Todesmärsche in andere Lager geschickt, wobei die meisten von ihnen starben. Bei Kriegsende 1945 waren noch 800 der ca. 50.000 Deportierten und weniger als 1.000 der rund 500.000 baltischen Juden am Leben.

Text: V.V.

verwendete Literatur

Sebastian Lehmann/Robert Bohn/Uwe Danker (Hg.), Reichskommissariat Ostland. Tatort und Erinnerungsobjekt, Paderborn 2012.

Uwe Danker/Astrid Schwabe, Schleswig-Holstein und der Nationalsozialismus, Neumünster 2006, S. 140-146.