Opfer des Nationalsozialismus: Jüdinnen und Juden
Der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Schleswig-Holstein war verschwindend gering: Bei einer Volkszählung 1925 betrug er 0,13%. Auch im Kreis Steinburg waren Juden eine Minderheit. Die Volkszählung von 1939 verzeichnet in Itzehoe, dem damals noch nicht zur Stadt gehörenden Edendorf, Dägeling, Krempe, Glückstadt, Kiebitzreihe und Lockstedter Lager 29 Personen, die als jüdisch eingestuft wurden.
Die ersten antisemitischen Übergriffe in Itzehoe ereigneten sich am 1. April 1933. SA-Männer blockierten die Eingänge zu von jüdischen Inhaber*innen geführten Geschäften. Sie stellten Schilder mit antisemitischen Parolen auf, fotografierten die Kund*innen und notierten, wer dort einkaufte. Die Fotos wurden in einem Schaukasten in der Mittelstraße (heute Berliner Platz) öffentlich ausgestellt.
Zu den von antisemitischen Ausschreitungen betroffenen Geschäftsleuten gehörten Hermann Abraham (*1896) und seine Frau Elisabeth (*1908). Sie betrieben das Kaufhaus Union in der Kirchenstraße 18 seit 1933 als Pächter. Hermann stammte aus einer seit Generationen in Hamburg ansässigen Familie, die eine Druckerei besaß. Er war als Soldat im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. Elisabeth war Christin und kam aus Lübeck. 1937 adoptierten die Abrahams die 1½ -jährige Daisy (*1935) aus einem jüdischen Waisenhaus. Ende August 1938 wurde das Kaufhaus Union „arisiert“ und die Familie somit enteignet. Im Dezember verließen sie Itzehoe. Ihnen gelang die Flucht nach China. In Shanghai eröffneten sie ein Geschäft für Kinderkleidung. 1949 wanderten sie von Shanghai nach Los Angeles (USA) aus.
Auch Sophie Eichwald (*1864) und ihrer Tochter Alice (*1903) gelang die Flucht. Die Eichwalds gehörten zu den alt eingesessenen Familien Itzehoes. Sophies verstorbener Mann Oscar besaß seit 1894 ein Geschäft für Herrenbekleidung in der Krämerstraße sowie ein Schuhlager. Er gehörte zu den Mitbegründern der Itzehoer Wasserwerke. Nach seinem Tod eröffnete Sophie 1910 ein Schuhgeschäft in der Breiten Straße 11. Alice Eichwald floh 1934 nach Kapstadt, ihre Mutter folgte ihr 1938.
Von 1896 bis 1938 besaß die Familie Hallenstein in Krempe eine Lederwarenfabrik, in der rund 200 Mitarbeiter beschäftigt waren. Im Juni 1937 wanderte der jüngste Sohn Rolf (*1912), der wegen „Rassenschande“ zwölf Monate im Zuchthaus verbracht hatte, nach Großbritannien aus. Sein älterer Bruder Erik (*1909) lebte dort schon seit 1928. Rolf reiste im September desselben Jahres weiter nach Australien. Auch den ältesten der Brüder, Ernst (später Ernest, *1907), verschlug es im September 1938 nach Australien. Mutter Hilda und Großmutter Julia gelang 1938 die Flucht nach England. Vater Harold Hallenstein war bereits 1922 verstorben. Die Lederfabrik, die Villa und drei weitere Häuser der Familie übernahm der Hamburger Fellhändler Wilhelm Meyenburg. Das Unternehmen bestand noch bis 1968.
Erna Gortatowski (*1891) lebte mit ihrer Tochter Ilse (*1916) und ab 1938 mit der Nichte Wally (*1910) in der Breiten Straße 29 in Itzehoe. An dieser Adresse befand sich seit 1910 das „Kaufhaus Holstein“, das Herrenkleidung und Schuhe anbot. Gründer des Unternehmens war Ernas Mann Heiman (1882-1933). Nach seinem Tod führte die Witwe das Geschäft allein weiter. 1939 verkaufte Erna Gortatowski das Haus in der Breiten Straße an den Kinobesitzer Kuno Lau, der dort das spätere „Lichtspielhaus“ einrichtete, und zog mit Ilse und Wally zu Verwandten nach Berlin. Am 15. Februar 1943 wurden Erna, Ilse und Ilses Mann Georg Engel ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert und dort ermordet. Wally überlebte, weil ihr späterer Ehemann Erich Mahrt sie in einer Berliner Schrebergartenkolonie versteckte. Das Ehepaar Mahrt wanderte 1949 nach Argentinien aus, 1976 kehrten sie nach Deutschland zurück und zogen nach Rendsburg. Wally Mahrt war mit dem Leben davongekommen, konnte die Zeit im Versteck und die Ermordung ihrer gesamten Familie jedoch zeitlebens nicht überwinden. Am 7. Oktober 1979 beging sie Selbstmord.
Am Sandberg 11 in Itzehoe befand sich das Schuhhaus Rieder. Aaron Rieder (*1897) war eines von sechs Geschwistern und stammte aus einer weit verzweigten Familie mit Wurzeln in der Tschechoslowakei. Seine Frau Gisela („Giska“, *1900) hatte ebenfalls familiäre Verbindungen in dieses Land. 1923 ließ sich das Ehepaar in Itzehoe nieder und baute das Unternehmen auf. 1931 und 1932 kamen die Töchter Erika („Puschi“) und Hannelore („Hansi“) auf die Welt. Im November 1936 suchte Familie Rieder Zuflucht in der Tschechoslowakei. Sicher waren sie dort jedoch nicht: Im Oktober 1938 annektierten die Deutschen das Sudetenland, im März 1939 entstand auf den verbliebenen tschechischen Gebieten das „Protektorat Böhmen und Mähren“. Aaron, Gisela, Erika und Hannelore Rieder wurden im April 1944 ins Ghetto Uzhgorod in der heutigen Ukraine gebracht. Drei Wochen später wurden alle 25.000 Insassen des Ghettos ins KZ Auschwitz deportiert. Aus Aaron Rieders großer Familie überlebten nur zwei seiner Brüder, die nach Palästina und in die USA auswandern konnten, den Holocaust.
Text: V.V.
verwendete Literatur
Regina König, "...wohl nach Amerika oder Palästina ausgewandert". Der Exodus jüdischer Familien aus dem Kreis Steinburg nach 1933, in: Steinburger Jahrbuch 2002, Itzehoe 2001, S. 79-113.
Eva Hoffmann, Kein Ort nach dem Entsetzen. Die Rendsburgerin Wally Gortatowski und ihre Familie, in: Gerhard Paul/Miriam Gillis-Carlebach (Hg.), Menora und Hakenkreuz. Zur Geschichte der Juden in und aus Schleswig-Holstein, Lübeck und Altona 1918-1998, Neumünster 1998, S. 689-698.
Vivian Vierkant, "Die Zeit hat uns doch ganz anständig gefärbt" - Gespräche mit Itzehoer Zeitzeugen, in: Miriam J. Hoffmann/Vivian Vierkant (Hg.), "Heute marschieren wir alle geschlossen hinter dem Führer." Itzehoe und der Kreis Steinburg 1933-1945, Itzehoe 2022, S. 19-45, hier S. 29-32.